Der Ethikbetrieb in der Medizin: Korrektur oder Schmiermittel der Kommerzialisierung
Seit den 80er Jahren haben sich im Gesundheitswesen die Versuche durchgesetzt, das Arztverhalten mit Geldanreizen zu steuern. Die finanziellen Steuerungsinstrumente bauen implizit darauf, dass die Ärzte sich bei ihren Entscheidungen, Empfehlungen, Verschreibungen, Überund Einweisungen primär von den damit verbundenen einzelwirtschaftlichen Gewinnchancen und -risiken leiten lassen. Damit wurde ein Ökonomisierungsprozess in Gang gesetzt, in dem tendenziell die medizinischen und pflegerischen Entscheidungen, Therapien, Empfehlungen usw. durch das ökonomische Vorteilskalkül überformt werden. Zeitgleich zu dieser Entwicklung hat sich in der Medizin ein professioneller Ethikbetrieb etabliert, der in den 90er Jahren boomartig expandierte. Das Gesundheitswesen wurde um eine weitere Experten- und Interessengruppe aus Philosophen, Moraltheologen und Ökonomen bereichert. In diesem Aufsatz geht es um eine Einschätzung des Ethikbetriebs unter dem Aspekt der Ökonomisierungstendenz, insbesondere der zunehmend berichteten ärztlichen Alltagspraxis, Patienten aus Gründen des Rentabilitätskalküls effektive Leistungen vorzuenthalten, sie in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Risiko weiterzuverlegen, zu meiden oder unnötig zum (lohnenden) 'Fall' zu machen. Die meisten Ärzte geraten hier in einen moralischen Konflikt zwischen der von ihnen erwarteten treuhänderischen Loyalität gegenüber den Patienten und dem wirtschaftlichen Vorteil der Institution. Kann ein Ethikbetrieb überhaupt moralische Normen und Werthaltungen im Gesundheitswesen konstituieren, und wenn ja, in welcher Weise? Die Überzeugung, Moral ließe sich lehren und lernen, liegt nicht zuletzt im Interesse des Ethikbetriebs an sich selbst. Dennoch kommt unter diesem Gesichtspunkt der akademischen Ethik nur eine marginale Rolle zu. Ihr Einfluss ist nur dort gegeben, wo sie der von den Tendenzen der Sozialordnung gewiesenen Richtung folgt und insofern trendverstärkend wirkt. Das ist auch im Hinblick auf die Ökonomisierungstendenz der Fall. Der Kern ihrer Tätigkeit besteht in Begründungen und Legitimationen von Entscheidungen, die vordem ohne den Ethikbetrieb getroffen wurden. Ihre wachsende Präsenz in der Klinik ist Zeichen einer Tendenz zu Abspaltung des Moralischen aus dem klinischen Alltagshandeln und der Verwandlung der Ärzte in (subjektive) 'ethische Laien'. In dem objektiven und strukturellen ärztlichen Interessenkonflikt zwischen monetärem Vorteil und Loyalität gegenüber den Patienten ist der ethische Mainstream bereits Partei, bevor er explizit wertet: strukturelle Konflikte werden meist als moralische Dilemmata interpretiert. Diese werden in einen ökonomischen Bezugsrahmen (Knappheit) gestellt der zeitlosen Dogmen herrschender Wirtschaftstheorie gestellt. Das implizite Bild vom Patienten legt es nahe, in ihm oder ihr weniger den kranken, sondern den durch selbst schädigendes Krankheitsverhalten und unbegrenzte Ansprüchen auf medizinische Leistungen gekennzeichneten Menschen zu sehen, demgegenüber restriktive und 'rationale' Haltungen angebracht sind.
Year of publication: |
2006
|
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Authors: | Kühn, Hagen |
Publisher: |
Berlin : Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) |
Saved in:
freely available
Series: | WZB Discussion Paper ; SP I 2006-303 |
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Type of publication: | Book / Working Paper |
Type of publication (narrower categories): | Working Paper |
Language: | German |
Other identifiers: | 719909716 [GVK] hdl:10419/47356 [Handle] RePEc:zbw:wzbhea:SPI2006303 [RePEc] |
Source: |
Persistent link: https://www.econbiz.de/10010304915
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