Übergänge in die Vollbeschäftigung: Formen und Finanzierung einer zukunftsgerechten Arbeitsmarktpolitik
Aus traditioneller Sicht erscheint Vollbeschäftigung heute als utopisches Ziel. Aus dieser Sicht wäre mittelfristig mit einer Beschäftigungslücke von 6,5 Millionen in der Bundesrepublik Deutschland zu rechnen. Stille Reserve und versteckte Arbeitslosigkeit sind dabei noch nicht mit einbezogen. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unterstützen heute schon eine Vielfalt institutioneller Alternativen zur regulären Erwerbstätigkeit, d.h. der ununterbrochenen Vollzeitbeschäftigung. Diese Alternativen - z.B. Fortbildung und Umschulung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Elternurlaub und vorzeitige Verrentung - entsprechen einem Beschäftigungspotential (Vollzeitäquivalent) von 2,5 Millionen und tragen in entsprechendem Umfang zu einer Annäherung an das Vollbeschäftigungsziel bei. Eine Strategie flexibler Arbeitsmarktübergänge könnte diese Alternativen verbessern und ihr Beschäftigungspotential mittelfristig um weitere 1 , 5 - 2 Millionen bereichern. Anstatt einen zweiten Arbeitsmarkt zu errichten* der absehbar vom ersten Arbeitsmarkt abgeschottet wird und dessen Funktionsweise beeinträchtigt, kombinieren Übergangsarbeitsmärkte reguläre Erwerbsarbeit mit anderen gesellschaftlich oder persönlich nützlichen Aktivitäten wie Lernen, Erziehen, kulturelles Gestalten, politische Beteiligung und soziales Engagement. Übergangsarbeitsmärkte könnten auf diese Weise einen effizienten Elastizitätspuffer schaffen, der in Rezessionsphasen expandiert und in Expansionsphasen kontrahiert. Sie wären eine realistische und moderne Alternative zur Zweidrittel-Gesellschaft, in der die einen zuviel an Arbeit und die anderen zu wenig haben. Im Hauptteil der Arbeit werden fünf Übergangsmärkte unterschieden: Übergänge zwischen Kurz- und Vollzeitbeschäftigung bzw. zwischen Arbeiten und Lernen, Übergänge zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, Übergänge zwischen Bildung und Beschäftigung, Übergänge zwischen privaten oder sozialen Aktivitäten und Erwerbstätigkeit, und schließlich Übergänge zwischen Beschäftigung und Rente oder Pension. 18 existente oder mögliche Beschäftigungsbrücken werden beschrieben: Ihr schon heute realisiertes Beschäftigungspotential in Ost- wie in Westdeutschland wird identifiziert, Möglichkeiten ihrer Verbesserung und Erweiterung werden diskutiert, und das Beschäftigungspotential von Innovationen wird geschätzt. Der nachfolgende Teil der Arbeit befaßt sich mit der Finanzierung einer zukunftsgerechten Arbeitsmarktpolitik. Arbeitnehmer in Übergangsarbeitsmärkten beziehen gleichzeitig reguläre, tariflich ausgehandelte Vergütung und Transferzahlungen. Dies setzt in der Regel eine Kombination mehrerer Finanzierungsquellen voraus. Aber auch die Anreizstrukturen müssen verändert werden, um die Akzeptanz von Übergangsmärkten bei Erwerbstätigen wie Betrieben zu fördern. Das System der Arbeitslosenversicherung muß deshalb konsequenter als bisher auf eine Beschäftigungsversicherung mit breiterer Finanzierungsbasis umgestellt werden. Um institutionelle Inkongruenzen bei Gebietskörperschaften, Bundesanstalt für Arbeit wie Sozialversicherungsträger zu vermeiden, wird ein regelgebundener Bundeszuschuß zu den Beiträgen der Bundesanstalt für Arbeit vorgeschlagen. Auch unter den günstigsten Bedingungen wird die Strategie von Übergangsarbeitsmärkten das Ziel eines neuen Verständnisses von Vollbeschäftigung nicht erreichen. Die hier geschätzte verbleibende Beschäftigungslücke von mehr als zwei Millionen verweist darauf, daß es nach wie vor auf eine koordinierte Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik ankommt, um qualitatives Wachstum im privaten und öffentlichen Bereich zu fördern. Mehr noch: eine solche Politik ist notwendige Voraussetzung für die Erweiterung von Übergangsmärkten, ebenso wie letztere wiederum die erforderliche Flexibilität für qualitatives Wachstum schaffen. Insofern sind Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik untrennbare Zwillinge.
Year of publication: |
1994
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Authors: | Schmid, Günther |
Institutions: | Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) |
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