Bedarfsgemeinschaften und ihre Mitglieder in der Beratungs- und Vermittlungsarbeit der Jobcenter
Holger Bähr, Andrea Kirchmann, Christin Schafstädt, Khira Sippli, Jochen Späth, Bernhard Boockmann ; Wissenschaftliche Beratung: Steffen Hillmert ; unter Mitarbeit von Anastasia Maier, Alfons Voit und Anne Zühlke
Während die Zielsetzung des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB II) und insbesondere die Maßnahmen der Arbeitsmarktförderung von den Möglichkeiten und Bedarfen der einzelnen Per-son ausgehen, erfolgt die Feststellung der Hilfebedürftigkeit unter Berücksichtigung der Bedarfs-gemeinschaft. Die vorliegende Studie untersucht die Frage, wie das Konstrukt der Bedarfsgemein-schaft in der Praxis der Beratung und Vermittlung im Bereich des SGB II berücksichtigt wird. Je nachdem, ob die Förderung der individuellen Erwerbsfähigkeit und Arbeitsmarktintegration oder das Ende der Hilfebedürftigkeit der Bedarfsgemeinschaft in den Vordergrund gestellt wird, folgen daraus in der Beratungs- und Vermittlungspraxis der Jobcenter unterschiedliche Handlungsoptionen. Die vorliegende Studie verfolgt ein "mixed methods"-Design, in dem sich quantitative und qualitative Untersuchungsschritte ergänzen. Zum einen wurden in sechs Jobcentern qualitative leitfadengestützte Interviews mit Vermittlungsfachkräften, Team- bzw. Bereichsleitungen, Beauftragten für Chancengleichheit und den Geschäftsführungen geführt. Einbezogen waren auch Vertreterinnen und Vertreter von Regionaldirektionen sowie der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit. Darüber hinaus wurden Gespräche zwischen Vermittlungsfachkräften und Kundinnen und Kunden teilnehmend beobachtet. Zum anderen wurde eine standardisierte Befragung von Vermittlungsfachkräften in 30 Jobcentern durchgeführt, die Aufschluss über Bewertungen und Vermittlerhandeln in Bezug auf Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften gibt. In diesem Rahmen wurde eine Vignettenanalyse durchgeführt. In den qualitativen Analyseteilen werden zunächst die Handlungsspielräume der Vermittlungsfachkräfte bei der Beratung und Vermittlung von Personen aus Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften analysiert. Den Rahmen hierfür bilden neben den gesetzlichen Vorgaben die Beratungskonzeption für die Grundsicherung für Arbeitsuchenden (BeKo SGB II) und das rechtskreisübergreifende 4-Phasen-Modell der Integrationsarbeit (4PM). Insgesamt zeigt sich, dass die Vermittlungsfachkräfte über erhebliche Handlungsspielräume verfügen. Die Jobcenter gestehen den Vermittlungsfachkräften für die Beratung und Vermittlung von Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften bewusst ein Ermessen zu, weil der jeweils spezifischen Situation, in der sich die Kundinnen und Kunden befinden, Rechnung getragen werden muss. Möglich wird dies durch die umfangreichen beruflichen Erfahrungen der Vermittlungsfachkräfte. Die geschlechtsbezogenen Rollenbilder der Vermittlungsfachkräfte, mit denen im Rahmen der Fallstudien Gespräche geführt wurden, sind mit dem im SGB II verankerten Ziel der Gleichberechtigung konform. Jedoch steht dieses Ziel nach Aussagen der Fachkräfte mitunter in Diskrepanz zu den individuellen Wertvorstellungen und geschlechtsbezogenen Rollenbildern der Kundinnen und Kunden. Die Vermittlungsfachkräfte gehen mit dieser Herausforderung unterschiedlich um. Während einige die vorgefundenen Rollenbilder akzeptieren und diese beim Versuch, die Kundinnen und Kunden aus dem Leistungsbezug zu bringen, berücksichtigen, verstehen andere es als ihre Aufgabe, auf die vorhandenen Rollenbilder einzuwirken. Dies wird teilweise durch ungünstige Rahmenbedingungen, etwa eine schlechte Kinderbetreuungssituation, erschwert. Bei der Vergabe von Maßnahmen werden die individuellen Bedarfe der Kundinnen und Kunden durchweg als das wichtigste Entscheidungskriterium angesehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Kontext der Bedarfsgemeinschaft ignoriert wird. So berücksichtigen die Vermittlungsfachkräfte, ob Kinder unter 15 Jahren, deren Betreuungssituation geregelt werden muss, in der Bedarfsgemeinschaft leben. Bei der Ausübung von Sanktionen wird das Kriterium der Einbeziehung des Bedarfsgemeinschaftskontextes von den befragten Personen unterschiedlich gewichtet. Einige von ihnen halten eine enge Auslegung der gesetzlichen Anforderungen für richtig. Gerade auf der operativen Ebene der Vermittlungsfachkräfte wird aber auch die Ansicht vertreten, dass der individuelle Kontext der Bedarfsgemeinschaft und dabei vor allem die Bedürfnisse von Kindern bei der Sanktionierung berücksichtigt werden müsse. In den betrachteten Personenkonstellationen von Bedarfsgemeinschaften ist bei Qualifikationsunterschieden oftmals der Partner mit der höheren Qualifikation in Vollzeit berufstätig, während sich der andere um die Kinderbetreuung kümmert. Bei der geringer qualifizierten Person handelt es sich zumeist um die Frau, die dann die Kinderbetreuung übernimmt, und nach Ende der Elternzeit zumindest übergangsweise nur geringfügig oder in Teilzeit beschäftigt ist. Darüber hinaus zeigt die qualitative Analyse jedoch auch Fälle, in denen die Frau auch dann (zumindest zeitweise) zu Hause bleibt und die Kinderbetreuung übernimmt, wenn sie höher qualifiziert ist als ihr Partner. In den Gesprächen mit Vermittlungsfachkräften äußerten diese, dass in einem solchen Fall die Frau bevorzugt aktiviert werden könnte, um die Bedarfsgemeinschaft eher aus der Hilfebedürftig-keit zu führen. Allerdings wiesen sie dabei auch darauf hin, dass die gezielte Förderung der Frau am traditionellen Geschlechterrollenbild scheitern kann. Die Vignettenanalyse hat zum Ziel, die Aufmerksamkeit, die die Vermittlungsfachkräfte den Kundinnen oder Kunden zukommen lässt, zu messen. Hierzu werden Einschätzungen darüber erfragt, welche Kontaktdichte die Vermittlungsfachkraft in Bezug auf Männer und Frauen mit unterschiedlichen Merkmalen für geeignet hält. Ein zentrales Ergebnis ist, dass das Geschlecht für sich genommen keinen Einfluss auf die als geeignet angesehene Kontaktdichte hat. Allerdings halten die Befragten bei Frauen mit Kindern eine längere Zeitdauer bis zu einem Folgetermin als bei Frauen ohne Kinder für angemessen, während bei Männern ein solcher Unterschied nicht gemacht wird. Die Vermittlungsfachkräfte sehen Kinderbetreuung somit entweder selbst als Frauensache an, oder sie unterstellen, dass diese Arbeitsteilung von der Bedarfsgemeinschaft gewünscht wird. Für Personen mit viel Berufserfahrung fällt der Effekt dabei deutlich geringer aus als für Personen mit wenig Berufserfahrung. Insgesamt weist die Studie auf die zentrale Rolle der Kinderbetreuung für die Beratung und Vermittlung von Frauen in Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften hin. Dies gilt nicht nur für die Kontaktdichte, sondern gemäß den Ergebnissen der qualitativen Studie auch für die Vergabe von Maßnahmen und andere Elementen der Aktivierung. Künftig sollte daher noch stärker untersucht werden, welchen Beitrag die Verfügbarkeit von Kinderbetreuung für die Vermittlung in Beschäftigung und Maßnahmen leistet.
Year of publication: |
8. August 2019
|
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Authors: | Bähr, Holger ; Kirchmann, Andrea ; Schafstädt, Christin ; Sippli, Khira ; Späth, Jochen ; Boockmann, Bernhard |
Other Persons: | Hillmert, Steffen (contributor) ; Maier, Anastasia (contributor) ; Voit, Alfons (contributor) ; Zühlke, Anne (contributor) |
Publisher: |
Nürnberg : Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit |
Saved in:
freely available
Extent: | 1 Online-Ressource (196 Seiten) Diagramme |
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Series: | IAB-Forschungsbericht : aktuelle Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. - Nürnberg : IAB, ISSN 2195-2655, ZDB-ID 2164523-1. - Vol. 2019, 6 |
Type of publication: | Book / Working Paper |
Type of publication (narrower categories): | Graue Literatur ; Non-commercial literature |
Language: | German |
Notes: | Gesehen am 21.11.2019 Zusammenfassung in englischer Sprache |
Other identifiers: | hdl:10419/204772 [Handle] |
Source: | ECONIS - Online Catalogue of the ZBW |
Persistent link: https://www.econbiz.de/10012040595
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