In Weißrußland fehlt nach wie vor eine angemessene wirtschaftspolitische Reaktion auf die äußerst schwierige wirtschaftliche Lage des Landes. Dies hat erwartungsgemäß zu einer weiteren Verschärfung der Wirtschaftskrise geführt. Für das Gesamtjahr 1994 ist auf der Basis der ersten drei Quartale mit einem Rückgang des realen BIP um etwa ein Viertel zu rechnen. Das Tempo des Rückgangs dürfte sich damit gegenüber 1993 mehr als verdoppeln. Überproportional fiel der Produktionsrückgang in den ersten drei Quartalen 1994 zum einen in der Brennstoffindustrie aus, die vor allem russisches Erdöl weiterverarbeitet; daran wird die zentrale Rolle der im Preis stark gestiegenen und zugleich mengenmäßig erheblich reduzierten russischen Energielieferungen deutlich. Zum anderen weisen solche Industriezweige besonders ausgeprägte Rückgänge auf, die Investitionsgüter — vorzugsweise für den GUS-Markt — erzeugen. Rückläufig entwickelten sich aber auch die Erträge in der Landwirtschaft. Die Bruttoanlageinvestitionen schrumpften um 26 vH. Allerdings nahmen dabei die Investitionen in die Erdölverarbeitung, die chemische und petrochemische Industrie geringfügig zu. Die Arbeitslosenquote beträgt offiziell immer noch nur 2 vH. Angesichts eines kumulierten Rückgangs des BIP seit 1989 von etwa 40 vH muß jedoch von versteckter Massenarbeitslosigkeit ausgegangen werden. Die Verbraucherpreise stiegen im bisherigen Verlauf des Jahres 1994 durchschnittlich um 27 vH im Monat. Die Fiskalpolitik verlief 1994 äußerst sprunghaft. Nach einer extremen Zunahme der Haushaltsausgaben im ersten Quartal, die zu einem Defizit von 13 vH des BIP führte, wurden im weiteren Jahresverlauf kräftige Ausgabenkürzungen vorgenommen, so daß das kumulierte Defizit im dritten Quartal 1994 unter 3 vH des BIP fiel. Es ist jedoch zu vermuten, daß die Geldpolitik die Aufgaben der Fiskalpolitik übernommen hat. Dies würde bedeuten, daß an 21 die Stelle von Zuwendungen aus dem Staatshaushalt im zweiten und dritten Quartal neuerlich Kredite traten, die von der Zentralbank zu negativen Realzinsen bzw. de facto ohne Rückzahlungspflicht über die Geschäftsbanken an die Unternehmen ausgegeben wurden. Auf diese Praxis verweisen sowohl jüngste Absichtserklärungen, künftig anders verfahren zu wollen, als auch die anhaltend hohen Inflationsraten. Von seiten der Lohnpolitik kam es zu einer beträchtlichen Kostenentlastung für die Unternehmen. Diese Entwicklung ging mit einem erheblichen Rückgang des Lebensstandards einher. Das Leistungsbilanzdefizit dürfte sich 1994 um mehr als die Hälfte auf über 600 Mill. US$ ausweiten. Obwohl Weißrußland ohne Belastung durch Altschulden der Sowjetunion in die Unabhängigkeit ging, beträgt der Stand der Außenverschuldung nach nur drei Jahren Unabhängigkeit bereits über 50 vH des BIP. Ein solches Ausmaß der Neuverschuldung wird sich nicht mehr lange fortführen lassen. Als eines der Instrumente zur Lösung des Problems zeichnet sich die Bezahlung russischer Energielieferungen mit Aktienpaketen weißrussischer Unternehmen ab. Die noch im ersten Halbjahr gehegten Hoffnungen auf wieder niedrigere russische Energiepreise, auf die Wiederbelebung der alten Absatzmärkte in Rußland, auf einen Beitritt zur Rubelzone und damit auf neuerliche Subventionen in Gestalt einer Beteiligung an den russischen Geldschöpfungsgewinnen haben sich, wie dies von den Instituten erwartet worden war, allesamt zerschlagen. Damit ist die Wirtschaftspolitik auf der ganzen Linie gescheitert. Weder konnte der Lebensstandard der Bevölkerung aufrechterhalten, noch ein dramatischer Einbruch der Investitionen verhindert werden. Auch das nach den Präsidentschaftswahlen schnell erstellte Anti-Krisen- Programm bietet keinen Lösungsansatz. Es enthält unvereinbare Zielsetzungen. So soll der gegenwärtige Lebensstandard gehalten, eine ungleichere Verteilung von Einkommen und Vermögen nicht zugelassen, in kurzer Frist der Produktionsrückgang praktisch zum Stillstand gebracht, die Arbeitslosigkeit auf 3 vH beschränkt und die monatliche Inflationsrate in den einstelligen Bereich zurückgeführt werden. Die vorgeschlagenen Instrumente zur Erreichung dieser Ziele werden unzureichend präzisiert. So sollen einerseits keine Kredite mehr an zahlungsunfähige Unternehmen ausgereicht werden, andererseits soll es für Unternehmen, denen eine Priorität zugesprochen wird, bei finanz- und geldpolitischer Unterstützung bleiben. Einerseits sollen Kredite nur noch zu Marktzinsen ausgereicht werden, andererseits gelten weiterhin Vorzugszinsen für sozial wichtige Zwecke. Einerseits wird eine Liberalisierung der Außenwirtschaftstätigkeit angekündigt, andererseits ihre stärkere Regulierung und Kontrolle. Diese Widersprüche deuten darauf hin, daß es sich bei dem Anti-Krisen-Programm um ein Kompromißpapier handelt, in das ohne ausreichende Abstimmung die Forderungen verschiedener Interessengruppen Eingang fanden. Insgesamt wird also die Krise von der weißrussischen Regierung nicht zum Anlaß entschiedener marktwirtschaftlicher Reformen genommen. Vielmehr werden befehlswirtschaftliche Strukturen reaktiviert. Westliche Unterstützung sollte daher mit der nachdrücklichen Forderung nach einem schlüssigen Transformationskonzept verbunden bleiben.