Estland auf dem Weg zur Marktwirtschaft: eine Zwischenbilanz
Die Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung und des ordnungspolitischen Reformprozesses in Estland ergibt ein überwiegend positives Bild. Es läßt den Schluß zu, daß Estland auf dem Weg zur Marktwirtschaft schon mehrere wichtige Schritte vorangekommen ist. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist im Vergleich zu den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Reformländern durch ein hohes Maß an monetärer Stabilität gekennzeichnet. Das reale Sozialprodukt schrumpft mit abnehmenden Raten und hat möglicherweise Ende 1993 den Tiefpunkt erreicht. Der Außenhandel, zunehmend auf westliche Märkte ausgerichtet, expandiert wieder. Allerdings steht dem Arbeitsmarkt die Anpassungslast eines beschleunigten Strukturwandels noch bevor. Die neue Rechtsordnung entspricht bereits weitgehend "westlichen Standards" und garantiert langfristig demokratische Verhältnisse und ein hohes Maß an Rechtssicherheit. Gleichwohl ist das Gerichtswesen derzeit begrenzt funktionstüchtig und das Zivilrecht, das die private Vertragsfreiheit absichern sollte, immer noch lückenhaft. Obwohl schon seit 1989 rechtliche Grundlagen für die Privatisierung geschaffen wurden, verläuft der Privatisierungsprozeß schleppend: Bis Ende 1992 waren es vor allem Methodendiskussionen und Kompetenzstreitigkeiten, die die Privatisierung lähmten; seitdem sind es restriktive Auflagen bei Unternehmensverkäufen, die eine zügige Privatisierung behindern. Zusätzlich erweist sich die äußerst langwierige Bearbeitung von Alteigentümeransprüchen als Privatisierungsbremse. Der dennoch zunehmende Anteil privatwirtschaftlicher Aktivitäten ist vornehmlich auf Neugründungen zurückzuführen. Die Institutionen der Geld- und Fiskalpolitik sind gesetzlich verpflichtet, dem Ziel der makroökonomischen Stabilität Rechnung zu tragen. Eine Finanzierung von Staatsausgaben über die Notenpresse ist ausgeschlossen, alternative Möglichkeiten zur Defizitfinanzierung sind kaum vorhanden. Somit ist der Druck zu fiskalischer Disziplin außerordentlich hoch. Auf den allermeisten Märkten sind die Preise freigegeben und die Marktzutrittsschranken beseitigt worden. Auch die außenwirtschaftliche Öffnung Estlands ist weitgehend vollendet. So verzichtet Estland fast vollständig auf eine staatliche Regulierung des Außenhandels. Doch auch dieses Bekenntnis zum Freihandel hat bislang nur wenig geholfen, estnischen Exporteuren den Zugang zu wichtigen westlichen Märkten, insbesondere zum europäischen Binnenmarkt, zu eröffnen.