Die Bestände von Dorsch und frühjahrslaichendem Hering der westlichen Ostsee sind in den letzten Jahren stark zurückgegangen und um 2015 ist der Westdorschbestand nach dem Überschreiten eines biologischen Kipppunktes zusammengebrochen, ohne dass Aussicht auf kurzfristige Erholung besteht. Der Rückgang der Fischbestände in Kombination mit strengeren Regularien, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen und das zunehmende Bewusstsein, dass natürliche Ressourcen geschützt werden sollten, haben zu Konflikten zwischen verschiedenen Stakeholdergruppen geführt. Im Rahmen des Projektes „marEEshift“ wurden am Thünen-Institut für Ostseefischerei i) Workshops mit Vertreter:innen der Berufs- und Freizeitfischerei, der Umweltorganisationen und der Fischereimanagement/der Politik durchgeführt, ii) Trends und Kipppunkte in der Angel- und Berufsfischerei sowie iii) Methoden zur Gewinnung, Validierung und Verbesserung der Datengrundlage zur Angelfischerei in der westlichen Ostsee untersucht. Die Workshops fanden im Winterhalbjahr 2019/2020 statt, der gemeinsame Abschlussworkshop mit allen Beteiligten sowie mit Vertreter:innen aus der Politik wurde aufgrund der Covid-19-Pandemie im September 2022 durchgeführt. Die Vertreter:innen der Stakeholdergruppen identifizierten zum Teil dieselben Faktoren als relevant für den Westdorschbestand (v.a. Klimaveränderungen, Eutrophierung, Einstromereignisse von Nordseewasser, Prädation, fischereiliche Entnahmen), wobei einige Faktoren von den Gruppen unterschiedlich bewertet wurden. Gemeinsame Ziele konnten unter den Stichworten „gesunder Dorschbestand und nachhaltige Fischerei“ und „respektvoller Umgang zwischen den Stakeholdergruppen mit dem Ziel der Kompromissfindung“ zusammengefasst werden. Als Maßnahmen diskutiert wurden u. a. eine bessere Ausgestaltung der Fangquoten, flexible Schonzeiten und Schutzgebiete, Erfolgskontrollen von Fischereiverordnungen, verstärkte Berücksichtigung des Wissens der Akteure, bessere wissenschaftliche Bestandsmodelle, die Vereinfachung gesetzlicher Vorschriften, Bürokratieabbau sowie vor allem die Reduzierung von Nährstoffeinträgen in die Ostsee. Im gemeinsamen Abschlussworkshop bestand Konsens, dass die nachhaltige Ostseeküstenfischerei erhalten und die landwirtschaftliche Nutzung geändert werden sollte, um die Umweltqualität der Ostsee zu verbessern. Schutzgebiete und Laichschonzeiten wurden als sinnvoll erachtet, sollten aber unter Beteiligung der Fischerei flexibel gestaltet werden, der Berufsfischerei Planungssicherheit geben und auf ihre Effektivität hin überprüft werden. Aus Sicht der Angelfischerei sollte generell mehr Wert auf Eigenverantwortung und Umweltbildung gelegt werden. In Zukunft soll die Kooperation zwischen den anwesenden Akteursgruppen verbessert und vor allem die Landwirtschaft mit einbezogen werden. Als eine Möglichkeit der Diversifizierung der Berufsfischerei wurde auch die Beschäftigung der Fischer im Sinne einer Fischbestandspflege als „Förster des Meeres“ diskutiert. Die Kommunikation zeigte, dass es trotz einiger Differenzen Gemeinsamkeiten gab, die die gemeinsame Entwicklung von Lösungsansätzen ermöglichen sollten. Zeitreihendaten zur Dorschangelfischerei an der deutschen Ostseeküste zeigten einen Rückgang der Zahl der Kutterangler:innen in den vergangenen Jahren, wohingegen die der vom Boot aus angelnden Personen vergleichsweise stabil blieb. Die Fang- und Entnahmeraten sowie der Anteil großer Dorsche in den Fängen nahmen über die Zeit ab. Eine Periode geringer Fangraten zwischen Dezember 2015 und Dezember 2017 korrespondierte mit der geringen Bestandsgröße des Westdorsches. Bei der deutschen Ostseefischereiflotte, die überwiegend aus kleinen und mittleren Fischereifahrzeugen besteht, nahmen Anlandungen und Erlöse seit 2000 kontinuierlich ab, wobei der Rückgang bei Fischereifahrzeugen unter 12 m Länge vergleichsweise geringer ausgeprägt war als bei mittelgroßen Fahrzeugen, vermutlich weil der Rückgang bei Dorsch und Hering durch Anlandungen von Süßwasserarten aus den Bodden teilweise ausgeglichen werden konnte. Interviews mit Berufsfischern zeigten, dass viele Fischende die Fischerei eher aus Gründen der Tradition und des Naturerlebens als aus finanziellen Gründen ausüben Die Studie zeigte einen tiefgreifenden Strukturwandel der deutschen Ostseefischerei, der vor allem durch einen Rückgang mittelgroßer Fischereifahrzeuge und einem zunehmenden Anteil kleiner Fahrzeuge gekennzeichnet ist, die vermehrt im Nebenerwerb betrieben werden können. 2022/23 wurde eine deutschlandweite, repräsentative Telefon/Fangtagebuch-Studie abgeschlossen. In dieser Studie wurden u. a. Angelaufwand, Angelmethoden, Zielfischarten, Fang- und Rücksetzraten und monetäre Ausgaben erfasst und die Angelnden zu Fangorientierung sowie zur Bedeutung des Angelns für ihr Leben und zu ihren Motiven für das Angeln befragt. Darüber hinaus wurden die Aspekte Gesundheit und Wohlbefinden, Klimawandel, Tierschutz und Fischereimanagement im Kontext der Angelfischerei abgefragt. Auf Basis der Studie wurde die Zahl der Angelnden an der deutschen Ostseeküste (Ostsee und Bodden) auf 221.579 (203.843 - 238.684, 95 % Konfidenzintervall (KI)) Personen geschätzt, die rund 1.035.086 (956.551 - 1.120.04695 % KI) Angeltage an der Ostsee und rund 181.000 Angeltage an den Boddengewässern verbrachten. In der Ostsee wurde am häufigsten auf Meerforelle, Dorsch, Hering und Flunder geangelt, in den Bodden auf Barsch, Hecht, Zander und Hornhecht. Ein Vergleich mit früheren Daten (2014/15) zeigte, dass sich Fang- und Rückwurfraten von Dorschangler:innen eher zwischen den Angelmethoden (Boot-, Kutter- und Uferangeln) als zwischen den Erhebungsmethoden unter-schieden und dass die Schätzungen von Fang- und Rücksetzraten durch Angelhäufigkeit (Avidity) und Erinnerungsfehler verzerrt werden können. Im Rahmen von „marEEshift“ wurden zudem in Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen Studien i) zur ökonomische Bedeutung der Ostsee- und Boddenangelfischerei, ii) zu den potentiellen Auswirkungen unterschiedlicher Managementmaßnahmen auf den Westdorschbestand, iii) den Präferenzen der Dorschangler:innen, iv) den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Angelfischerei, v) den Hechtbeständen der Boddengewässer, vi) zur invasiven Schwarzmundgrundel (Neogobius melanostomus) in den Küstengewässern, und vii) der Umweltverträglichkeit von Weichplastikködern durchgeführt.